Anders als bei anderen Therapieformen gibt es keine "Mutter" und keinen "Vater" der Familientherapie. Familientherapie gleicht einem Strom, zu dem von Anfang an eine Reihe innovativer ForscherInnen und TherapeutInnen beigetragen haben, teils ganz unabhängig voneinander, teils im Austausch miteinander.

Die Bewegung entwickelte sich in den fünfziger Jahren in den USA und in den sechziger Jahren in Europa, hier besonders in Deutschland und in Italien. Eine der zentralen Feststellungen war, dass auffälliges, "verrücktes" Verhalten keineswegs nur als Ausdruck innerseelischer Konflikte verstehbar ist, sondern als eine passende Reaktion im Zusammenhang mit den Umweltbedingungen, beispielsweise mit der Familienstruktur. Der therapeutische Blick erweiterte sich vom Individuum auf die Beziehung, die Zweierbeziehung, die Familie und größere Bezugssysteme. In den USA waren u. a. Gregory Bateson, Paul Watzlawick, Virginia Satir und Salvador Minuchin Wegbereiter, in Deutschland Horst-Eberhard Richter und Helm Stierlin und in Italien Mara Selvini Palazolli.

In der Familientherapie / Systemischen Therapie werden Probleme nicht als Eigenschaften einzelner Personen gesehen. Sie sind Ausdruck der aktuellen Kommunikations- und Beziehungsbedingungen in einem System. Symptome erscheinen auch nützlich, da sie auf Störungen der Entwicklungsmöglichkeiten hinweisen.

Familientherapie / Systemische Therapie ist eine Form der Therapie, die Gesundheit und Krankheit, insgesamt die Lebensqualität von Menschen im Zusammenhang mit ihren relevanten Beziehungen und Lebenskonzepten sieht. Dabei erweiterte sich in den letzten Jahren der Blickwinkel von der Familie auf die sie umgebenden Systeme wie Arbeitsfeld und Wohnwelt und auch auf die Kontexte, in denen Therapie und Beratung stattfindet.

Ziel der Therapie ist eine Erweiterung der Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten des/der Einzelnen und des Gesamtfamiliensystems. FamilientherapeutInnen arbeiten ressourcenorientiert. Der Therapeut / die Therapeutin versucht, die bisherigen Muster und Vorannahmen in Frage zu stellen und regt andere Sichtweisen an, um neue Interpretationsvarianten und Interaktionsregeln zu ermöglichen. Dabei nutzt sie/er besondere Gesprächstechniken, beispielsweise das Umdeuten als die Kunst, etwas "in einen anderen Rahmen zu stellen", oder zirkuläre Fragen, durch die Menschen angeregt werden, ihre eigenen handlungsleitenden Annahmen über Beziehungen und ihre Einschätzungen der Motive und Prämissen der anderen auszusprechen und damit zur Diskussion zu stellen. Um Beziehungen erfahrbar zu machen, kann der Therapeut / die Therapeutin die Familien auffordern, sich in einer Skulptur darzustellen. Wahrnehmungen und Bewertungen können auch verändert werden durch den Gebrauch von Bildern und Metaphern.

Die TherapeutInnen sehen sich nicht als die Experten, die die Diagnose stellen und die Lösung vorgeben. Sie führen vielmehr einen neugierigen und respektvollen Dialog mit ihren KlientInnen, einem Einzelnen, einem Paar oder einer Familie, um sie darin zu unterstützen, Blockaden in ihrer Entwicklungsdynamik aufzulösen und neue Perspektiven und befriedigendere Muster des Zusammenlebens zu entwickeln.

(Anne Valler-Lichtenberg/DGSF)